Europa ist sich einig. Am 15. Oktober 2020 haben alle 27 Mitglieds­staaten die gemeinsame Erklärung Building the next generation cloud for businesses and the public sector in the EU unterzeichnet1. Demnach sollen neue Normen für eine europäische Cloud etabliert sowie resiliente und wettbewerbs­fähige Kapazitäten für Daten­speicherung und -verarbeitung in Europa aufgebaut werden. Insgesamt sind Investitionen in Höhe von bis zu 10 Milliarden Euro dafür vorgesehen.

Motiviert ist dieses Engagement durch die Vormachts­stellung außer­europäischer, vor allem US-amerikanischer Konzerne im Cloud-Geschäft. Seit Jahren ist Amazon der Cloud-Anbieter mit den größten Marktanteilen in Europa. Im ersten Quartal 2020 belegte Microsoft den zweiten Platz. Dahinter folgten Google und IBM2. Vor allem seit den Enthüllungen von Edward Snowden über die globale Überwachungs­affäre der NSA gilt diese Konzentration im Bereich der IT-Infrastruktur in den USA für Europa als problematisch. Digitale Souveränität ist das politische Buzzword der Stunde.

Wie es zu dieser US-dominierten Markt­konzentration kommen konnte, hängt einerseits mit der technischen Entwicklung zusammen. Die zugrunde liegenden Virtualisierungs­technologien, die es ermöglichen, IT-Infrastruktur bedarfsabhängig zu buchen ohne eigene Server zu betreiben, wurden initial maßgeblich von US-amerikanischen Konzernen wie Amazon vorangetrieben und seit 2006 vermarktet. Nicht ganz unschuldig daran ist aber auch die Nutzung der Cloud als Marketing-Begriff, der einen neuen abstrakten Ort für die Speicherung und Verarbeitung von Daten und die Bereitstellung von Infrastruktur und Software bezeichnet.

Die Vermarktung der Cloud

Obwohl die Cloud als schwer greifbar erscheint, sind ihre Entstehungs­bedingungen und Vorläufer gut erforscht. Tsung-Hui Hu beschreibt in A Prehistory of the Cloud3 zum Beispiel die Zusammenhänge der heutigen Infrastruktur mit älteren Netzwerken und den Time-Sharing Systemen der 1970er Jahre. Als Symbol wurde die Cloud bereits früh in technischen Zeichnungen verwendet, um den unbekannten Teil eines Netzwerk zu skizzieren.

[…] engineers at least as early as 1970 used the symbol of a cloud to represent any unspecifiable or unpredictable network, whether telephone network or Internet.3

Mit der Vermarktung der Cloud als IT-Infrastruktur, die über ein Netzwerk bereitgestellt wird, wurde dieses Unbekannte systematisch als etwas Bekanntes positioniert. Die Cloud ist im Grunde genommen eine radikal vereinfachte Erklärung einer komplexen Innovation im Bereich der IT-Infrastruktur. Das Versprechen dahinter ist ein neues Level an Komfort - sei es in der Nutzung von Anwendungen, die nicht lokal installiert werden müssen oder dem vereinfachten Zugriff auf Daten von unterschiedlichen Geräten.

So hat sich Cloud Computing nicht nur im geschäftlichen Umfeld aufgrund der Kostenersparnisse durch gebündelte, virtualisierte IT-Ressourcen durchgesetzt. Auch im privaten Alltag ist die Cloud allgegenwärtig. Wir speichern unsere persönlichen Daten in der Cloud. Wir hören Musik und schauen Filme und Serien aus der Cloud. Und wir interagieren mit Diensten in der Cloud. Als Grundlage für as-a-service-Angebote hat diese Vereinfachung eine wesentliche Rolle für die Kommerzialisierung des Internets gespielt.

Von der Papierablage in die Wolke

Der Aspekt des Unbekannten, der dem Cloud-Symbol innewohnt, erstreckt sich insbesondere auf den Ort der Datenablage und -verarbeitung. So unterscheidet sich das Bild der Cloud drastisch von der traditionellen Bildersprache für die Orte von Daten, die auf Analogien zur Ablage von Papieren basieren.

In den ersten Betriebs­systemen konnten die Nutzer per Kommandozeile Dateien in Ordnern ablegen. Das System simuliert im Grunde den Vorgang, ein beschriebenes Blatt Papier in dem Ordner eines Aktenschranks abzuheften. Mit dem Aufkommen grafischer Benutzer­oberflächen wurde diese Idee mit der Desktop-Metaphorik fortgesetzt. Hier gibt es zum Beispiel den Papierkorb als speziellen Ort für nicht mehr benötigte Dateien.

Die Cloud behandeln wir nun ebenfalls als Ort der Datenablage. Schließlich speichern wir Daten in der Cloud und rufen Daten aus der Cloud ab. Wir wissen aber in vielen Fällen nicht im Detail, wo sich dieser Ort befindet. Hier liegt ein zentraler Unterschied zur lokalen Daten­speicherung, bei welcher der Ablageort bekannt ist. Die Dateien liegen in dem Ordner eines physikalischen Mediums - zum Beispiel einer Festplatte oder eines USB-Sticks. Die zugrunde liegende Hardware ist greifbar nah.

Bei der Ablage in der Cloud interagieren wir mit Daten vielleicht noch in der oben beschriebenen Logik der Verwaltung von Papier. Wir wissen aber nicht mehr, wo sich der dazugehörige Aktenschrank befindet. So kann es vorkommen, dass zum Beispiel die Fotos der letzten Familienfeier verteilt auf den Festplatten in den Server-Schränken irgendwelcher Rechenzentren in Texas, Kalifornien oder Virginia liegen.

Hier liegt ein Kernproblem der Cloud-Metapher. Das Bild abstrahiert die zugrunde liegende Infrastruktur und blendet die Details der Datenspeicherung und -verarbeitung schlichtweg aus. Und genau dieses Ausblenden könnte die Konzentration der Cloud Computing Infrastruktur in den Händen weniger US-amerikanischer Konzerne begünstigt haben. Denn während der Cloud-Begriff eine hochgradig verteilte Infrastruktur suggeriert, kam es in der Praxis zu einer Zentralisierung von IT-Infrastruktur und dem Bau immer größerer Datenzentren.

Folgt die Zerlegung der Cloud?

Mit der eingangs erwähnten Erklärung und den Bestrebungen für eine europäische Cloud beginnt das Bild von der Cloud als einer einzigen, verwobenen Instanz womöglich auch in der öffentlichen Wahrnehmung zu bröckeln. Europa prophezeit die Zerlegung der Cloud auf mehreren Ebenen:

Einerseits betont die EU immer wieder die Relevanz von Edge Computing, das in den kommenden Jahren vor allem im industriellen Bereich zunehmen soll. Hier findet die Daten­verarbeitung eben nicht auf einem zentralen Server statt, sondern lokal am Rand des Netzwerks. Mit der Daten­verarbeitung am Rand verringert sich die Macht zentraler daten­verarbeitender Instanzen.

Andererseits forciert die EU nun eben den Aufbau einer europäischen Cloud mit eigenen Spielregeln. Ob es gelingt, wettbewerbsfähige europäische (Regel-)Alternativen zu den etablierten Angeboten zu schaffen, wird sich zeigen. Wenn es gelingt, sprechen wir vielleicht schon bald von mehreren Clouds. Oder zumindest von Cloud-Standards, die unterschiedlichen Regeln unterliegen.

So oder so fordern die aktuellen Diskussionen unser bisheriges Verständnis der Cloud heraus. Möglicherweise schaffen sie ein größeres Bewusstsein für die Orte, an denen Daten tatsächlich gespeichert und verarbeitet werden.