Spatial Computing ist eine der Technologien, die im Jahr 2020 den größten Aufwind erhalten hat. Zumindest laut dem kürzlich erschienenen Bericht Top 10 Emerging Technologies of 20201, den das Welt­wirtschafts­forum in Kooperation mit Scientific American herausgegeben hat.

Um die neue Technologie zu motivieren, schildert der Bericht zur Einführung einen Anwendungs­fall, in dem sich eine achtzig­jährige Dame im Rollstuhl durch ihre Wohnung bewegt. Dabei reagiert ihre gesamte Umgebung automatisch auf den ein­geschlagenen Weg. Lichter schalten sich vor ihr ein und hinter ihr aus, die Umgebungs­temperatur wird angepasst und Objekte wie ein Tisch bewegen sich wie von Zauberhand aus dem Weg. Als sie auf dem Weg ins Bett stürzt, eilen Einrichtungs­gegenstände zur Hilfe, um den Sturz abzufedern, und ihr Sohn wird automatisch benachrichtigt.

Das Beispiel zeigt, dass es offenbar Parallelen zwischen Spatial Computing und benachbarten Domänen wie dem Smart Home gibt. Wie weit gehen diese Parallelen? Und was ist eigentlich wirklich neu am Spatial Computing?

Auslegungsweisen von Spatial Computing

Eine weit verbreitete Definition des Begriffs Spatial Computing ist auf Simon Greenwold zurückzuführen, der ihn in seiner Masterarbeit am MIT 2003 folgendermaßen erklärt:

Spatial computing is human interaction with a machine in which the machine retains and manipulates referents to real objects and spaces.2

In dem oben beschriebenen Anwendungsfall findet zwar keine bewusste Interaktion mit einer Maschine statt, aber die zahlreichen Reaktionen der häuslichen Umgebung lassen sich als unbewusste Interaktionen verstehen.

Weiterhin wird Spatial Computing auch häufig als Oberbegriff der vielen Reality-Spielarten verwendet: Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR), und Mixed Reality (MR). In der Tat haben diese Technologien in 2020 einen weiteren Schub bekommen.

VR-Hardware entwickelt sich rasant weiter. Games wie das im März 2020 veröffentlichte Half Life: Alyx loten neue Wege für Storytelling und Game Design aus. AR-Anwendungen sind so vielfältig und weit verbreitet, dass wir sie selbst­verständlich nutzen und nicht mehr als futuristische Spezialfälle wahrnehmen - zum Beispiel wenn wir per App prüfen, ob das Handgepäck in den projizierten Quader des Kamerabildes passt und damit die Größen­vorgaben der Flug­gesellschaft erfüllt.

Nicht zuletzt trägt auch die Pandemie zu einer erhöhten Nachfrage von VR Hard- und Software bei. Sie wecken die Hoffnungen an weitergehende menschliche Interaktionen, die über Video­konferenzen hinausgehen.

Wenn man Spatial Computing als Oberbegriff von VR, AR und MR versteht, ist die Aufführung als eine der aufstrebenden Technologien in 2020 nachvollziehbar. Der eingangs erwähnte Bericht mit dem Beispiel der Achtzig­jährigen spricht jedoch von „The next big thing beyond virtual and augmented reality“. Was genau ist „beyond“?

Laut dem Bericht zielt Spatial Computing auf eine engere Integration zwischen digitaler und physischer Welt. Ausgehend von aktuellen VR/AR-Technologien lässt sich diese Zielsetzung folgendermaßen verstehen: Nehmen wir als Beispiel die Interaktion mit einem virtuellen Weihnachts­mann. Wenn wir mit dem Weihnachts­mann in einer virtuellen Umgebung - zum Beispiel in seiner Werkstatt, umgegeben von Rentieren - interagieren, ist es Virtual Reality. Wenn der Weihnachts­mann als überlagerndes Bild in unser Wohnzimmer projiziert wird, ist es Augmented Reality. Und wenn sich die projizierte Figur in unserem Wohnzimmer aufs Sofa setzt und das Licht dimmt, bevor sie mit uns spricht, geht es in Richtung der nächsten Stufe: Spatial Computing.

Insofern wird Spatial Computing gleichzeitig als eine der aufstrebenden Technologien in 2020 und als eine neue Technologie­stufe positioniert, die erst in der Zukunft erreicht wird.

Der Traum einer völlig computerisierten Umgebung

Genau solche Szenarien der Mensch-Computer-Interaktion, in denen ein Bezug zu realen Objekten und Orten besteht, lotet auch Greenwold in einer Reihe von Installationen und Experimenten aus. Er sieht Spatial Computing insbesondere als Gegenentwurf des rein Virtuellen, das er kritisch als den wahr gewordenen Traum von Ingenieuren beäugt:

The dream of escaping the imperfect and unpredictable real world is the engineer’s heaven. It is a denial of heaviness, friction, death, and decay. The memory spaces of computer science are the site of huge projects in idealized engineering — where programmers construct machines of astonishing complexity in the absence of gravity and corrosion.2

Vor diesem programmatischen Hintergrund erscheint es fast tragisch, dass der Begriff des Spatial Computing heute für Szenarien wie die eingangs erwähnte Rollstuhl-Fahrt herhält - und damit gewissermaßen einen entgegen­gesetzten Traum bedient: die vollständige Kontrolle über die reale Welt anstatt der virtuellen Welt. Es ist die Utopie einer komplett technisierten Umgebung, die uns in allen Belangen dient. In der selbst die einfachsten Gegenstände in einem Raum nicht nur da sind, sondern auch ohne aktive Nutzung eine Funktion erfüllen können - und sei es auch nur, uns aus dem Weg zu gehen wie der Tisch in dem dargestellten Szenario.

Zurück in die Zukunft der Vergangenheit

Die Voraussetzung für diese engere Verflechtung ist die Erfassung der physischen Umgebung mit Sensoren sowie eingebetteten Computern und die Weiter­verarbeitung der damit erhobenen Daten - bzw. die Ausstattung von physischen Objekten mit Aktoren, die sich durch Steuerbefehle ansprechen lassen. Damit rückt das Paradigma jedoch in die Nähe von ganz ähnlichen Konzepten, die bereits seit Jahrzehnten - unabhängig von virtueller Realität - untersucht werden.

Dazu gehört allen voran das seit Ende der 1980er Jahre vorangetriebene Konzept des Ubiquitous Computing, in dem der Informatiker Mark Weiser das Verschwinden des Computers, wie wir ihn kennen, prophezeite. Weiser entwirft in dem visionären, immer noch lesenswerten Artikel The Computer for the 21st Century3 das Bild einer computer­getriebenen Welt, in der die Menschen auf natürliche Weise von der Technologie profitieren und nicht mehr mit klassischen Desktops interagieren müssen. Der Weg zu Ubiquitous Computing führt dabei gerade über die Enbettung von Computern in alle nur denkbaren Objekte unserer Umgebung.

Hundreds of computers in a room could seem intimidating at first, just as hundreds of volts coursing through wires in the walls did at one time. But like the wires in the walls, these hundreds of computers will come to be invisible to common awareness. People will simply use them unconsciously to accomplish everyday tasks.3

Neben Ubiquitous Computing gibt es eine Reihe ganz ähnlich gelagerter Konzepte, die mit jeweils unter­schiedlichen Betonungen ähnliche Ideen vorantreiben. Dazu gehören zum Beispiel das Pervasive Computing, Wearable Computing, das Internet of Things, Smart Home, Ambient Intelligence und Everyware.

Das Verblüffende an all diesen Konzepten ist, dass sie trotz unterschiedlicher Ausgangspunkte, Technologie­schwerpunkte und Perspektiven bei ganz ähnlichen Zukunfts­vorstellungen landen. Spatial Computing reiht sich in dieser Hinsicht nahtlos in die bestehenden Konzepte ein. Die greifbarste Neuigkeit des Ansatzes ist vielleicht die Möglichkeit, mit Hilfe aktueller VR/AR-Technologie Teile dieser Zukunfts­vorstellungen praktisch umzusetzen. Welche Anwendungs­fälle sich jedoch letztendlich durchsetzen werden, steht auf einem ganz anderen Blatt.


  1. http://www3.weforum.org/docs/WEF_Top_10_Emerging_Technologies_2020.pdf 

  2. https://acg.media.mit.edu/people/simong/thesis/SpatialComputing.pdf  2

  3. Weiser, M.: The Computer for the 21st Century. Scientific American, 94-104 (September 1991).  2