Die alten Griechen würden wohl ordentlich mit den Ohren schlackern, wenn sie wüßten, was wir heute mit ihren Göttern anstellen. Der Götterbote Hermes bezeichnet einen Paketversand, die Fruchtbar­keits­göttin Demeter einen Bioanbau. Und wer heute an Nike denkt, wird wohl eher Assoziationen an Sportschuhe im Kopf haben, als Ehrfurcht vor der gleichnamigen Siegesgöttin.

Figuren der griechischen Mythologie sind fest in der heutigen Markenwelt verankert - auch und gerade im IT-Sektor. Sie reichern die Marken mit Hintergrund­geschichten an und schreiben ihnen Eigenschaften und Tugenden der Sagen­gestalten zu.

Von Asus bis Zephyr

Manche Unternehmen tragen diese erhofften Assoziationen recht offensiv zur Schau. Dazu gehört zum Beispiel der taiwanische Hardware­hersteller Asus, der seinen Markennamen folgendermaßen beschreibt:

ASUS takes its name from Pegasus, the winged horse in Greek mythology that symbolises wisdom and knowledge. ASUS embodies the strength, purity, and adventurous spirit of this fantastic creature, and soars to new heights with each new product it creates.1

Asus nutzt die positiven Eigenschaften der Sagenfigur und projiziert sie auf die eigene Produktwelt. Pegasus fungiert damit als eine Art abstrakter Gründungs­mythos der Marke, der ihren hohen Anspruch untermauern soll.

Neben Asus tragen viele Unternehmen Namen, die zwar eine Brücke zu den altertümlichen Sagen bilden, aber nicht explizit in der Markensprache genutzt werden. Dazu gehört beispielsweise Amazon, dessen Name vom Fluss Amazonas abgeleitet wurde, den spanische Entdecker nach dem Anblick indianischer Kriegerinnen wiederum nach den Amazonen benannt haben2.

Bei Projekten, Technologien und der Bezeichnung bestimmter Anwendungs­kategorien verhält es sich ähnlich. Einige sind bewusst nach mythologischen Figuren oder Objekten benannt - zum Beispiel Trojaner. Gleich mehrere Vertreter dieser Art brachte auch das Projekt Athena3 hervor - eine von 1983 bis 1991 laufende Kollaboration zwischen MIT, Digital Equip Corporation und IBM. Dazu gehören:

  • der Authentifizierungs­dienst Kerberos, benannt nach dem dreiköpfigen Hund, der den Eingang zur Unterwelt bewachte,
  • das Instant-Messaging-Protokoll Zephyr, benannt nach dem Gott des Westwindes, und
  • der Verzeichnisdienst Hesiod, der nach dem Autor der Theogenie benannt ist.

In anderen Fällen scheint die Verknüpfung eher zufällig zustande zu kommen. So lässt sich das Datenformat JSON - ein Akronym für die JavaScript Object Notation - als Anspielung auf die Sage von Jason und den Argonauten verstehen. Zumindest tut dies das Projekt Argonaut4 - eine JSON-Bibliothek für die funktionale Programmiersprache Scala.

Der Projektname Gaia-X

Bei Gaia-X ist davon auszugehen, dass der Göttername bewusst gewählt wurde, auch wenn er im Rahmen des Projekts nicht weiter erläutert wird. Die Initiatoren des Projekts greifen in ihrer Rhetorik implizit auf das Bild der Sagenfigur zurück. In dem im Oktober 2019 veröffentlichten Papier Das Projekt Gaia-X heißt es:

Wir verstehen das „Projekt GAIA-X“ als Wiege eines offenen digitalen Ökosystems, in dem Daten sicher und vertrauensvoll verfügbar gemacht, zusammengeführt und geteilt werden können.5

Die Wiege ist eine klare Anspielung auf Gaia, die große Mutter. Sie verspricht eine Neugeburt - einen Neuanfang in einem der Digitalbereiche, in dem Europa bisher nicht viel zu melden hatte. Natürlich in Form eines Ökosystems. In der Tat ist der Cloud-Markt von US-amerikanischen Unternehmen dominiert. In Q4 2019 belegte Amazon Platz eins des weltweiten Marktanteils von Cloud-Infrastruktur­anbietern6. Auf Platz zwei und drei folgen Microsoft und Google.

Das Magazin Cloud Computing Insider berichtet, dass auch das Akronym General Artificial Intelligence Architecture für Gaia-X im Gespräch war, aber wieder verworfen wurde7. Der Zusatz -X unterscheidet das Projekt dabei von anderen Initiativen, die sich ebenfalls mit dem Namen der Göttin schmücken (siehe Kasten im nächsten Abschnitt). Derzeit ist Gaia-X noch als vorläufiger Projektname gesetzt. Vielleicht wird bei der finalen Bezeichnung das X substituiert, das ohnehin wie eine Variable oder eine bewusst gesetzte Leerstelle anmutet. Dann würde die symbolträchtige Gaia erhalten bleiben.

Das Versprechen einer neuen Weltordnung

Die Wahl von Gaia als Projektname ist durchaus bedeutungsschwer, denn Gaia ist nicht irgendeine Göttin. Sie gehört in der griechischen Mythologie zu den ersten Göttern überhaupt. Sie entsproß dem Chaos und legte die Grundlage für die Erde. Sie gebar die Nacht, aus der der Tag und der Äther hervorging. Sie schuf den Sternenhimmel und die Weltmeere.

Eine Firma, ein Projekt oder eine Technologie nach einer Göttin oder einem Gott zu benennen ist an sich schon nicht gerade ein Akt der Bescheidenheit. Um so selbstbewusster erscheint die Verwendung von Gaia. Sie zeigt, wie ambitioniert sich das Vorhaben präsentiert.

Mit der (vorläufigen) Bezeichnung nach der großen Mutter verspricht Gaia-X deshalb Großes. Es geht um nicht weniger als eine Neuordnung der Welt - zumindest in puncto Datenhaltung im Sinne einer europäischen Emanzipation von US-amerikanischen Cloud-Anbietern.

Gaia als Namensgeber in Wissenschaft und Technik

Verkörperte Hoffnungen

Am Beispiel von Gaia zeigt sich deutlich, was den Reiz griechischer Mythologie ausmacht. Es sind die Geschichten dahinter, die ein Projekt mit Bedeutung aufladen und die auch technischen Konzepten Leben einhauchen, indem die Sagengestalten bestimmte dahinter liegende Prinzipien, Hoffnungen oder Visionen verkörpern. Vor allem in der Gemeinschaft Europas, die wiederum selbst nach einer Figur der griechischen Mythologie benannt ist, fallen Verweise auf die Sagen des Altertums auf fruchtbaren Boden.

Darüber hinaus gibt es weitere Faktoren, die die hohe Anzahl mythologisch inspirierter Namens­gebungen im IT-Sektor begründen könnten. Auch wenn wir nicht bei allen mythologisch inspirierten Namen gleich die entsprechenden Sagen abrufen, bleiben sie unterschwellig mit positiven Assoziationen verknüpft. Sie wirken geheimnisvoll und künden von den alten Wahrheiten einer untergegangenen, weit entwickelten Zivilisation.

Sagen und Science Fiction

Gerade für den IT-Sektor ist die griechische Mythologie vielleicht auch deshalb so attraktiv, weil in ihnen immer wieder eine hohe Affinität zu fortgeschrittenen Technologien durchschimmert. Viele Aspekte daraus kann man auch heute noch als Science Fiction verstehen. Einen Überblick gibt Adrienne Mayor in ihrem 2018 veröffentlichten Buch Gods and Robots - Myths, Machines and Ancient Dreams of Technology.

Da ist zum Beispiel der bronzene Automat Talos - eine Art autonomes Verteidigungs­system. Da sind die von Hephaistos für Minos hergestellten Pfeile, die nie ihr Ziel verfehlen - der Yaka Pfeil von Yondu aus Guardians of the Galaxy lässt grüßen. Und da ist der allessehende Humanoide Argus Panoptes, der heute einen passenden Patron für die wachsende Armada von Herstellern vernetzter Kamera­systeme abgeben würde.

Die Sagen des Altertums durchdringen die europäische Kultur auf so vielen Ebenen, dass wir sie in vielen Fällen schlichtweg nicht wahrnehmen. Ob bewusst oder unbewusst - sie transportieren immer noch die Faszination einer vergangenen, hochentwickelten Zivilsation, deren Wissen nur in Fragmenten wiederentdeckt wurde. Sie bleiben präsent - auch wenn sie heute manchmal eher wirken wie ein Aphrodisiakum für unsere Zuneigung zu Marken, Technologien oder eben Projekten wie Gaia-X.