Wer im Juli 2020 in Google News nach dem Begriff Ökosystem sucht, bekommt ein sehr gemischtes Bild präsentiert. Einerseits ist in den Überschriften der gelisteten Artikel die Rede vom Ökosystem Wald, dem Ökosystem Polarmeer und von Wölfen, die das Ökosystem stabilisieren. Andererseits geht es aber auch um Saugroboter aus dem Xiaomi Ökosystem, Microsofts Android-Ökosystem, Forderungen nach einem europäischen digitalen Ökosystem und darum, dass Apple sein Entwickler-Öksystem inklusiver machen möchte.

Das Ökosystem ist längst zu einem zentralen Begriff der Digitalisierung geworden, der in diversen Kontexten genutzt wird. Alleine die obigen Beispiele aus den Schlagzeilen zeigen, dass der Blickwinkel - ähnlich wie bei natürlichen Ökosystemen - ganz unterschiedlich sein kann. Digitale Ökosysteme werden in hersteller-, zielgruppen-, plattform-, branchen- oder länder­spezifischen Ausprägungen beschrieben.

Ursprung der Ökosystem-Metapher

In den Natur­wissenschaften wurde der Begriff des Ökosystems im Jahr 1935 von dem britischen Biologen Arthur George Tansley eingeführt1. Er bezeichnete damit ein System von Organismen und sämtlichen physikalischen Faktoren ihrer Umgebung. In Wikipedia ist ein Ökosystem heute folgendermaßen definiert:

Ein Ökosystem besteht aus einer Lebens­gemeinschaft von Organismen mehrerer Arten (Biozönose) und ihrer unbelebten Umwelt, die als Lebensraum, Habitat oder Biotop bezeichnet wird.2

Im Kontext der Digitalisierung trat die Metapher erstmals durch das EU-Projekt Digital Business Ecosystem (DBE) ins Rampenlicht, das von 2003 bis 2007 mit über 10 Mio. Euro gefördert wurde3. Beteiligt waren 20 europäische Partner, darunter Sun, IBM, Intel und mehrere akademische Institutionen.

Ausgangspunkt der Forschungsarbeiten zu Digitalen Business Ökosystemen war die Initiative Go Digital der Europäischen Kommission. Sie zielte darauf, europäischen kleinen und mittelständischen Unternehmen einen besseren Zugang zu Informations- und Kommunikations­technologie zu ermöglichen. Dazu sollte im Rahmen des DBE-Projekts eine Art Austausch­plattform geschaffen werden - eine Open Source Umgebung, die die “spontane Evolution, Adaption und Zusammen­setzung von Software-Komponenten unterstützt”3.

Durchgesetzt hat sich so eine Plattform bis heute beileibe nicht. Dennoch hat das Projekt Impulse für die Erforschung dezentraler digitaler Infrastrukturen gesetzt und einen Gegenentwurf zu den Plattform-Monopolen großer Tech-Konzerne aufgemacht. Es wird mit dafür verantwortlich sein, dass das Ökosystem heute ein zentraler Begriff europäischer Digitalpolitik ist.

Vom Business Ökosystem zum Digitalen Business Ökosystem

Auf die Ökosystem-Metapher im DBE-Projekt wird ausführlich in einem Diskussionspapier aus dem Jahr 2002 mit dem Titel Towards a network of digital business ecosystems fostering the local development4 eingegangen. Demnach war der Begriff des Business Ökosystems bereits etabliert und bildete den Ausgangspunkt für Digitale Business Ökosysteme. Bereits 1990 schrieb der Wirtschafts­wissenschaftler Michael Rothschild in dem Buch Bionomics: Economy as ecosystem:

A market economy can best be comprehended as a living, evolving ecosystem - a virtual rainforest. Key phenomena observed in nature - competition, specialization, cooperation, exploitation, learning, growth, and many others - are also central to business life.5

Nachdem das Marktgeschehen als natürlich auftauchendes Phänomen beschrieben war, lag es offenbar nahe, auch den digitalen Raum, dessen wirtschaftliche Bedeutung kontinuierlich wuchs, auf ähnliche Weise zu beschreiben. So heißt es in dem Diskussionspapier von 2002:

The complex adaptive and self-organising digital business ecosystem, like the economic ecosystems, could be well described exploiting the parallelism with the natural ecosystem. The digital business ecosystem, is a “digital environment” populated by “digital species” which could be software components, applications, services, knowledge, business models, training modules, contractual frameworks, laws, …4

Hinter dem Begriff des Digitalen Business Ökosystems steht mittlerweile ein multidisziplinäres Forschungsfeld, das u.a. in dem 2007 von der Europäischen Kommnission herausgegebenen Buch Digital Business Ecosystems6 umrissen ist. Die Autoren gehen auch hier noch mal auf die Begriffsherkunft ein und räumen ein, dass die Bedeutung von Digitalen Business Ökosystemen nicht einfach zu fassen ist.

However, it has also rendered a clear explanation of what the three terms mean when used together very difficult. It is especially challenging to show how these three terms necessarily imply some characteristics of the technology and not others, or how they imply some policy and governance choices and not others.6

Eine aktuelle Zusammenfassung der Forschungsstands bietet das Paper Digital business ecosystem: Literature review and a framework for future research7.

Infrastrukturen und ökonomische Akteure

Unabhängig von der komplexen wissenschaftlichen Beschreibung von digitalen Business Ökosystemen kursieren eine Reihe weiterer Definitionen für digitale Ökostsysteme. Sie legen ein einfacheres, deutlich reduziertes Verständnis der Metapher nahe. So ist ecosystem beispielsweise im Software and Systems Engineering Vocabulary - einer Begriffsdatenbank, die ein Verbund von Standardisierungs­organisationen aufgebaut hat - schlichtweg als Synonym für Infrastruktur beschrieben:

infrastructure. (1) hardware and software environment to support computer system and software design, development, and modification (ISO/IEC/IEEE 12207:2017 Systems and software engineering–Software life cycle processes, 3.1.25) Syn: ecosystem8

Im Kontext der Plattformökonomie wird ein Ökosystem hingegen als Gruppe von Akteuren verstanden, die zur Wertschöpfung einer Plattform beitragen:

In the context of digital platforms, ecosystems are collections of economic actors not controlled by the platform owner, yet who add value in ways that go beyond being a regular user.9

Diese Beispiele zeigen, wie flexibel der Begriff eingesetzt wird. Nichtsdestotrotz lassen sich Gemeinsamkeiten in der Verwendung des Bilds festhalten.

Digitale Ökosysteme als Utopien einer zu errichtenden Welt

In den Natur­wissenschaften legen biologische Ökosysteme einen bestimmten Beobachtungs­gegenstand fest. Bei digitalen Ökosystemen geht es hingegen weniger um das Beobachten. Im Fokus der artifiziellen Ökosysteme stehen vielmehr Fragen rund um den Aufbau sowie Anreize, Kontrollstrukturen und Machtverhältnisse. Ein digitales Ökosystem gibt ein bestimmtes Zielbild vor. Eine Welt, die geschaffen werden soll. Es ist damit immer auch eine Art Utopie.

Die Digitalpolitik beschäftigt sich zum Beispiel mit Regulierungen und Interventions­möglichkeiten, um solche Zielbilder zu erreichen. Das zeigt zum Beispiel sehr deutlich das im Februar 2020 veröffentlichte Weissbuch Zur Künstlichen Intelligenz - ein europäisches Konzept für Exzellenz und Vertrauen10. Darin geht es um den Aufbau eines europäischen KI-Ökosystems - eines Ökosystems des Vertrauens und eines Ökosystems der Exzellenz. Es sind bestimmte Werte vorgegeben, die das Ökosystem erfüllen soll. Und es ist ein Regulierungsrahmen skizziert, der die Rahmenbedingungen auf dem Weg dorthin definiert.

Ganz ähnlich verfolgen Unternehmen ihre Interessen mit dem Aufbau eigener digitaler Ökosysteme. Sie investieren in Partnerprogramme oder Infrastrukturen, um ihr eigenes digitales Ökosystem zu etablieren oder auszuweiten. Was das genau bedeutet, ist von Fall zu Fall sehr unterschiedlich. Ein weit verbreitetes Zielbild besteht jedoch darin, in irgendeiner Form die Kontrolle über eine Plattform zu erlangen und auf diesem Wege neue Umsätze zu generieren.

Die Plattform­ökonomie lässt sich insofern als Katalysator für die Verbreitung der Ökosystem-Metapher verstehen. Hier geht es schließlich dezidiert um das Zusammenspiel verschiedener Akteure auf einer gemeinsamen technischen Infrastruktur. In den letzten Jahren wurde die Entwicklung hin zu zentralen Plattformen und den damit verbundenen Monopolstellungen jedoch zunehmend kritisch betrachtet - zum Beispiel auf dem Digital Gipfel 2019 mit dem Thema Digitale Souveränität im Kontext plattformbasierter Ökosysteme11.

Fazit

Die biologische Metapher des Ökosystems besitzt keine einheitliche Definition für den digitalen Raum. Je nach Kontext werden verschiedene Aspekte des Bilds herausgegriffen - sei es eine wirtschaftlich vorteilhafte Koexistenz verschiedener Akteure auf einer geteilten technischen Infrastruktur oder eine anschlussfähige Evolution technischer Komponenten.

Dabei wird der Begriff nicht werturteilsfrei verwendet wie in den Naturwissenschaften. Er ist vielmehr durchzogen von einer Reihe positiver Konnotationen. Er suggeriert, dass die künstlich geschaffenen Systeme einer natürlichen Ordnung unterliegen. Dass sie eine schützenswerte Umgebung und ein Gleichgewicht bilden, in dem alle Akteure unterm Strich nur profitieren.

Diese Eigenschaften sind sicher mit dafür verantwortlich, dass der Begriff geradezu inflationär verwendet wird. Heute bezeichnet fast jedes Technologieunternehmen sein Portfolio als Ökosystem. Doch bei all der Fülle an Ökosystemen darf nicht vergessen werden, dass sie eben nicht natürlich sind - und nicht ohne eine gehörige Prise Utopie auskommen.