Auf einmal ist alles online: die Pilates-Stunde im Livestream, die Mathe-Nachhilfe per Videokonferenz, und die Geschäfts­kunden­präsentation via Screensharing. Behörden und Unternehmen schicken ihre Belegschaft ins Homeoffice. Bildungs­institutionen und Betroffene des Kontaktverbots stampfen Online-Angebote aus dem Boden, entwickeln neue Formate und produzieren Content.

Digitalisierungs­freunden würde die Vielzahl an Initiativen Freuden­tränen in die Augen treiben, wenn nicht die Tragik einer globalen Katastrophe dahinter stünde. Der Ideenreichtum, die Kreativität und das Durchhalte­vermögen derjenigen, die diese Angebote mit den bestehenden Möglichkeiten schaffen, sind bemerkenswert. Die zwangsweise hohe Geschwindigkeit dieser als Turbo­digitalisierung bezeichneten Entwicklungen wirft gleichzeitig jedoch viele Fragen und Probleme auf.

Mehr Arbeit als vorher

Die aktuell geschaffenen Online-Angebote sind zu einem großen Teil ein Ersatz für Aktivitäten, die aufgrund der Kontakt­einschränkungen nicht stattfinden können. Dazu gehören beispielsweise Sport- und Musikangebote, aber auch Beratungs­dienstleistungen, die üblicherweise vor Ort stattfinden.

Einerseits ist es ein Segen, dass viele Menschen ihre Tätigkeiten in der ein oder anderen Form überhaupt in den digitalen Raum übertragen können. Die Angebote spenden den Initiatoren und den Teilnehmenden Trost. Sie zeigen Perspektiven auf, wie die eigene Profession selbst in Krisenzeiten unter allen Einschränkungen zumindest teilweise fortgesetzt werden kann.

Andererseits sind diese Online-Angebote auch Ausdruck einer gewissen Existenzangst. Viele Berufstätige sehen sich zu neuen Arbeitsweisen gezwungen, da sie aufgrund der Kontakteinschränkungen eine Reihe von Aktivitäten für ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können.

Die Umsetzung der Online-Angebote erfordert jede Menge Kraft und Energie. Viele Lehrer, Leiter, Trainer und Berater, die solche Ersatzangebote schaffen, haben trotz Umsatzeinbußen mehr Arbeit als vorher. Sie fuchsen sich in Software und Online-Plattformen ein und loten aus, wie sie mit technischen Mitteln den Wegfall des persönlichen Kontakts von Angesicht zu Angesicht kompensieren können. Sie stehen vor der Kamera, schneiden Film und Ton, erstellen Tutorials und entwickeln Konzepte für Workshops via Videokonferenz.

Das kann durchaus bereichernd sein. Es kann auf Dauer aber auch zermürben, da viel Zeit für technische Umsetzungs­aufgaben aufgewendet werden muss, die nicht unbedingt in direktem Zusammenhang mit der ausgeübten Profession stehen.

Diejenigen, die die Angebote wahrnehmen, wissen häufig gar nicht, wie viel Aufwand dahinter steht. Selbst in Do-It-Yourself-Plattformen wie Youtube ist eine hohe Produktions­qualität etabliert. Die Erwartungshaltung ist hoch. Erfolgreiche Youtuber haben eingespielte Teams hinter sich stehen. Selbstständige und kleine Firmen, die nun behelfsweise Videos produzieren, können unmöglich von heute auf morgen so eine Qualität erreichen. Hier kollidiert möglicherweise der Anspruch der Teilnehmenden mit den begrenzten Ressourcen der Initiatoren.

Admin wider Willen

Besonders hoch ist der Aufwand bei interaktiven Formaten. Hier müssen die Initiatoren der Angebote viele Menschen erst dazu befähigen, daran teilnehmen zu können. Sie sind Admin wider Willen. Sie zeigen den Teilnehmenden, wie sie ihre Audioeinstellungen konfigurieren, wie sie ihre Kamera freigeben und wie sie Inhalte in den unterschiedlichsten Plattformen teilen können. Das mag harmlos klingen. Jeder, der aber schon einmal in irgendeiner Form IT-Support gemacht hat, weiß, wie anstrengend das sein kann.

So zeigt die jetzige Situation, bei der Online-Angebote wirklich in der Breite genutzt werden, dass der Umgang mit digitalen Medien kein Selbstläufer ist. Benutzer­oberflächen mögen noch so intuitiv gestaltet sein, sie sind nicht von jedem auf Anhieb bedienbar.

Die Fähigkeiten und Kompetenzen, im digitalen Raum agieren zu können - im englischsprachigen Raum auch als Digital Literacy beschrieben - ist bei vielen Menschen ausbaufähig. Das fällt in der jetzigen Krisen­situation umso stärker auf, da sie die Voraussetzung für die Teilhabe an Aktivitäten sind, die außerhalb des digitalen Raums zurzeit nicht stattfinden können.

Kontrollverlust durch hohe Geschwindigkeit

Zu hohe Geschwindigkeit führt zu Kontroll­verlust. Insbesondere die überstürzte Umsetzung von IT-Projekten und -Direktiven birgt eine Reihe von Gefahren, denen in der jetzigen Situation vor allem Unternehmen und Behörden ausgesetzt sind. Bestes Beispiel dafür sind die Betrugsfälle beim Corona-Soforthilfeprogramm in NRW. Durch die fehlende Überprüfung der angegebenen Kontonummern entstand ein Schlupfloch, das Betrüger durch das Abgreifen von Daten auf gefälschten Webseiten und den Austausch der angegebenen Kontonummern ausgenutzt haben1.

Die pragmatischste und schnellste Lösung ist nicht immer die beste. Im Worst Case treten gravierende Sicherheits- und Datenschutz­mängel auf. Bei überstürzten Software-Einführungen ist außerdem die Wahrscheinlichkeit höher, dass zu einem späteren Zeitpunkt doch auf ein anderes System umgesattelt wird - sei es, weil langfristig nicht alle Anforderungen durch das Behelfssystem abgedeckt werden können oder weil die Lizenz­bedingungen auf Dauer nicht akzeptabel sind. Die Folge sind aufwändige und kostspielige Migrations­projekte.

Zu wenig schnelle Internetanschlüsse

Auch wenn es beeindruckend sein mag, wie viele Aktivitäten wir durch Online-Angebote in der einen oder anderen Form fortsetzen können, bleibt die Technik ein limitierender Faktor. Unter den Mitglieds­staaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gehört Deutschland zu den Schlusslichtern, wenn es um schnelle Internet­anschlüsse mit Download-Raten über 256 kbit/s geht. So waren laut einer OECD-Studie2 in Deutschland im zweiten Quartal 2019 weniger als vier Prozent aller Haushalte mit einer Glasfaser­leitung versorgt. In Japan liegt diese Zahl bei fast 80 Prozent, in Spanien bei über 60 Prozent.

Selbst bei einfachen Videoanrufen über das Internet treten immer noch regelmäßig Ruckler, verschwommene Bilder und Tonunter­brechungen auf. Für einfache Besprechungen mag das reichen. Für eine Reihe weiterer Aktivitäten ist der jetzige technische Stand nicht ausgereift genug. So lässt sich beispielsweise keine Chorprobe per Videokonferenz abwickeln. Die Latenz ist zu hoch, um gemeinsam synchron zu singen. Die Audio-Qualität ist zu schlecht, um gezielt an Klangfarben zu arbeiten.

Weit entfernt vom Holodeck

Eine weitere technische Dimension betrifft neben der Internet-Infrastruktur die Art und Weise, wie wir in digitalen Räumen interagieren können. Auch hier wird die Technik kontinuierlich weiterentwickelt. Einerseits durch die Industrie, z.B. in Form von immer leistungsfähigeren VR-Headsets. Andererseits durch staatliche Initiativen: Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat zum Beispiel erst vor kurzem eine Richtlinie zur Förderung von Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet “Interaktive Systeme in virtuellen und realen Räumen - Innovative Technologien für die Digitale Gesellschaft”3 veröffentlicht.

Vielleicht werden wir uns in ein paar Jahren in einer Holodeck-artigen Umgebung treffen, in der wir so natürlich interagieren, als wenn wir uns gegenüberstehen. Zurzeit sind die technischen Möglichkeiten aber noch weit davon entfernt. Der eingeschränkte technische Rahmen tritt immer wieder in den Fokus, wenn wir Gesprächpartner darauf aufmerksam machen, dass sie “gerade gemutet” sind oder wir sie eben “nur verzerrt hören” konnten.

Wenn die Entwicklung in den kommenden Jahren voranschreitet, könnten technische Limitierungen sukzessive weniger ins Gewicht fallen. Dann bleibt die Frage: Welche Aktivitäten sollten überhaupt - nicht nur provisorisch, sondern langfristig - in den digitalen Raum übertragen werden? Und welche nicht?

In der jetzigen Situation kann man erahnen, wie unheimlich dystopisch die Vorstellung ist, nur noch ausschließlich über technische Hilfsmittel zu interagieren. Digitale Kommunikations­lösungen können temporär zwar einiges kompensieren. Den direkten Kontakt ersetzen können sie aber nicht.

Rückkehr zur Normalität?

Werden viele Angebote, die nun behelfsweise erschaffen werden, ebenso schnell wieder verschwinden, wie sie gekommen sind? Es bleibt abzuwarten, wie sich die Rückkehr zur Normalität gestaltet.

Vielleicht bleiben einige Angebote bestehen, da sie weiterhin gerne von ausreichend vielen Interessenten wahrgenommen werden. Vielleicht sind wir auch froh, die exzessive Nutzung des digitalen Raums wieder deutlich einzuschränken. Dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, um die nächste Generation der Digital Detox Seminare und Retreats vorzubereiten.

Fest steht: Nicht alles, was jetzt ad hoc in eine digitale Form gebracht wird, ist von Dauer. Nicht ausgeblendet werden sollten die skizzierten Probleme, Ungewissheiten und möglichen Kontrollverluste.

Vielleicht passt der Begriff der Turbo­digitalisierung gerade deswegen ganz gut. Denn Turbo bezeichnet nicht nur umgangssprachlich den Turbolader, der die Leistung von Verbrennungsmotoren steigert. Laut Wikipedia bezeichnet Turbo an erster Stelle die sogenannten Turbinidae, eine meeresbewohnende Schneckengattung.

Digitalisierung vollzieht sich nicht nur schnell, sondern auch im Schneckentempo. An einigen Stellen geht es langsamer voran als erhofft. An anderen wäre es angebracht, das Tempo bewusst zu drosseln.