Der Gründungsmythos des Schachspiels ist wohl die bekannteste Anekdote darüber, dass Menschen das Ausmaß exponentiellen Wachstums nur schwer begreifen können.

Der Legende nach hat ein indischer Brahmane das Spiel für den tyrannischen Herrscher Shihram erfunden. Als Belohnung erbat sich der Brahmane eine bestimmte Menge an Weizenkörnern. Angefangen bei einem Korn auf dem ersten Feld des Schachbretts sollte auf jedem weiteren Feld die doppelte Menge des vorherigen Felds liegen. Auf dem zweiten Feld zwei Körner, auf dem dritten vier, auf dem vierten acht, und so weiter.

Der Herrscher lachte und gewährte die Bitte - nur, um später festzustellen, dass auf der ganzen Welt bei Weitem nicht so viele Weizenkörner existierten wie er versprochen hatte.

Ähnlich wie dem Herrscher geht es auch uns immer wieder, wenn wir mit exponentiellem Wachstum konfrontiert werden. Der Verstand ist in der Lage, die Konsequenzen des Wachstums zu erfassen. Die Intuition versagt.

Der Beitrag der Süddeutschen Zeitung über Die Wucht der großen Zahl zeigt anschaulich, was exponentielles Wachstum im Falle des Coronavirus bedeutet. Die dargestellten Kurven der Entwicklung der Fallzahlen in verschiedenen Ländern zeigen dabei die charakteristische Form exponentiellen Wachstums.

Es beginnt unscheinbar. Die Kurve schwillt langsam und kaum merklich an und steigt dann aber plötzlich explosionsartig nach oben. Ganz ähnliche Wachstumsverläufe beobachten wir in der anhaltenden Digitalisierung.

Exponentielles Wachstum und die digitale Revolution

Das bekannteste Beispiel für exponentielles Wachstum im Bereich der Digitalisierung ist im sogenannten Mooreschen Gesetz festgehalten. Es besagt, dass sich die Anzahl der Transistoren auf einem integrierten Schaltkreis in regelmäßigen Abständen (meistens ist die Rede von 18-20 Monaten) verdoppelt.

Gordon Moore, ein Mitbegründer des Halbleiterherstellers Intel, beschrieb diese Beobachtung erstmals in einem Artikel im April 1965. Bis heute wird kontrovers diskutiert, was an dem Gesetz dran ist, wann es endet, und ob es vielleicht nur eine selbsterfüllende Prophezeiung war.

Den exponentiellen Charakter des digitalen Wandels kann retrospektiv wahrscheinlich jeder erahnen, der ein paar Entwicklungsschritte bewusst miterlebt hat.

Ich kann mich zum Beispiel noch gut an meinen ersten PC erinnern. Ein 286er mit einer 20 Megabyte großen Festplatte. Heute bekomme ich gelegentlich E-Mails in dieser Größenordnung. Die Rechenpower, die vor wenigen Jahrzehnten in Großrechnern ganze Räume ausfüllte, tragen wir heute in der Hosentasche mit uns herum.

Das Bemerkenswerteste daran ist vielleicht nicht einmal, wie schnell sich digitale Technologien weiterentwickeln. Sondern, wie schnell wir uns an sie gewöhnen. Mittlerweile entbehrt unser Umgang mit dem Wandel nicht einer gewissen Routine.

Kontroverser Endpunkt: Die Singularität

Für die Beschleunigung des digitalen Wandels gibt es Theorien, die über das Mooresche Gesetz hinausgehen. So behauptet das law of accelerating returns des Futurologen Ray Kurzweil, dass jeder evolutionäre Prozess - ob biologisch oder technologisch - durch exponentielles Wachstum charakterisiert ist. In dem 2005 erschienenen Buch The Singularity Is Near beschreibt Kurzweil es folgendermaßen:

The ongoing acceleration of technology is the implication and inevitable result of what I call the law of accelerating returns, which describes the acceleration of the pace of and the exponential growth of the products of an evolutionary process.

Die Visionen und Prophezeiungen, die Kurzweil daraus ableitet, sind in vielerlei Hinsicht atemberaubend und faszinierend. Sie enthalten aber auch eine gehörige Prise Science Fiction und technologischen Fanatismus.

So kulminiert das exponentielle Wachstum evolutionärer Prozesse laut Kurzweil unweigerlich in der sogenannten Singularität - einer zukünftigen Periode, in welcher das menschliche Leben grundlegend und unveränderbar transformiert wird und in der biologische und technische Existenzen verschmelzen.

Der Autor tritt damit in die Fußstapfen von Hans Moravec, der bereits in seinem 1988 erschienenen Buch Mind Children das Ende der Menschheit wie wir sie kennen verkündete und Maschinenwesen als Nachkommen propagierte.

Die Theorien haben jede Menge Anhänger gefunden, die an diese transhumanistische Ideologie des Singularitarismus glauben. Sie stoßen aber auch auf jede Menge Kritik und Zweifel. So konstatierte der Physiker Douglas Hofstadter in einem 2007 veröffentlichten Interview mit Greg Ross für das Magazin American Scientist:

If you read Ray Kurzweil’s books and Hans Moravec’s, what I find is that it’s a very bizarre mixture of ideas that are solid and good with ideas that are crazy. It’s as if you took a lot of very good food and some dog excrement and blended it all up so that you can’t possibly figure out what’s good or bad. It’s an intimate mixture of rubbish and good ideas, and it’s very hard to disentangle the two […]

Exponentielles Wachstum stoppen

Vor allem in Hinblick auf die entscheidende Rolle exponentiellen Wachstums sind Zweifel angebracht. Die Theorie stellt den Wachstumsprozess als unaufhaltsam dar.

Exponentielle Wachstumsprozesse sind aber von beschränkter Dauer - sowohl in der Natur als auch in technischen Entwicklungen. Sie stoßen an Grenzen. Der See, auf dem sich Seerosen exponentiell vermehren, ist irgendwann vollständig bedeckt. Das Mooresche Gesetz kann aufgrund physikalischer Grenzen nicht ewig gelten. Und auch das Schachbrett hat nicht unbegrenzt viele Felder.

Entscheidender als die Grenzen mag aber die Einsicht sein, dass die Menschheit exponentiellem Wachstum nicht hilflos ausgesetzt ist. Die globalen Isolationsmaßnahmen im Zuge der Corona-Pandemie zeigen ein beispielloses Aufbäumen gegen das Virus, bei dem jeder einzelne Mensch durch sein Verhalten einen Beitrag leistet.

Wenn es gelingt, auf diese Art die Verbreitung eines Virus einzudämmen, dann wird es erst recht gelingen, menschengemachte technische Entwicklungen, die einem exponentiellen Wachstum folgen, unter Kontrolle zu bringen. Auch dem digitalen Wandel sind wir nicht hilflos ausgesetzt.