Seit mehr als 15 Jahren tauchen in Digitalisierungsdiskursen immer wieder Begriffe auf, die Versionsnummern tragen. Am weitesten verbreitet sind das Web 2.0 und - zumindest in Deutschland - die Industrie 4.0. Laut Google Trends wurde der Zenit des Web 2.0-Hypes im Jahr 2007 erreicht. Seitdem ist das Interesse daran weitgehend verebbt. Der Aufstieg des Begriffs Industrie 4.0 startete im Jahr 2013. Seit 2018 scheint das Interesse zwar etwas abzunehmen, doch auch Anfang 2020 treffen wir immer wieder auf 4.0-Buzzwords.
Warum tragen diese Begriffe überhaupt Versionsnummern und warum sind sie so erfolgreich?
These 1: Versionsnummern schaffen eine Verbindung zu Hochtechnologie
Versionsnummern werden mit Software und damit verbundenen Hochtechnologien assoziiert. Dadurch sind Begriffe mit Versionsnummern wie 2.0 und 4.0 ganz anders aufgeladen als Begriffe mit schlichten Zahlen wie 2 und 4. Sie werden in einen technischen Zusammenhang gerückt.
Die Versionierungsanalogie ist damit ein sehr modernes Bild. Versionsnummern werden für übergeordnete Zusammenhänge verwendet, für die eigentlich keine Versionierung üblich ist. Das ist deshalb so effektiv, weil wir in einer Zeit leben, in der Software zu einem großen Anteil unseren Alltag bestimmt.
Diese Funktion der Versionsierungsanalogie, etwas in einen technischen Zusammenhang zu setzen, wird auch in der Unterhaltungskultur eingesetzt. Der 2007 erschienene Actionfilm Stirb Langsam 4.0 spielt schon im Titel auf den Plot an, in dem sich der von Bruce Willis gespielte John McClane mit Cyber-Terroristen und Hackern herumschlagen muss. Das zweite, 1998 veröffentlichte Studioalbum von Garbage verweist mit dem Titel Version 2.0 auf den Sci-Fi High-Tech Sound der Band.
Auch ein genauerer Blick auf die verwendeten Versionsnummern an sich zeigt, wie geeignet die Analogie ist, um Veränderungen zu vermitteln. Bei zweiteiligen Versionsnummern bezeichnet die Zahl vor dem Punkt in der Regel ein Major Release. Die Zahl dahinter bezeichnet ein Minor Release. Es hat einen Grund, dass wir nicht etwa vom Web 1.2 oder der Industrie 3.4 sprechen. Die Versionszahlen 2.0 und 4.0 markieren als Major Releases entscheidende Weiterentwicklungen.
Weit verbreitete Versionierungsschemata wie Semantic Versioning1 sehen eine Erhöhung der Major-Versionszahl sogar nur dann vor, wenn eine Inkompatibilität zu vorherigen Versionen vorliegt. Major-Versionen suggerieren weitereichende Veränderungen und zu einem gewissen Maße auch einen Bruch zu Vorherigem.
These 2: Versionen können frei konstruierbare Entwicklungsstufen bezeichnen
Versionsnummern sind hervorragend dafür geeignet, Entwicklungsgeschichten zu konstruieren. Der Begriff Web 2.0 wurde beispielsweise verwendet, um eine bestimmte Entwicklungsphase des Internets zu betiteln. Er bezeichnet keine konkrete Technologie. Er fasst grob den Übergang von statischen Webseiten - dem Web 1.0 - zu dem von nutzerseitigen Interaktionen geprägten Internet zusammen, das wir heute kennen.
Bei der Versionszahl 2.0 ist die Historie noch übersichtlich. Hier liegt lediglich ein einmaliger Umbruch vor. Das Web 2.0 legt schlichtweg eine neue Form des Web nahe, die neue Features mit sich bringt. Die 2.0 fungiert als eine Art Synonym für “neu”. Bei höheren Versionszahlen werden in der Regel mehrere voneinander abgegrenzte Phasen beschrieben.
Eine umfangreichere Entwicklungsgeschichte findet sich beispielsweise in dem 2017 veröffentlichten Buch Life 3.0 von Max Tegmark über Künstliche Intelligenz. Tegmark konstruiert mit folgenden Definitionen stark vereinfacht die Evolution verschiedener Lebensstufen (S.39):
- Life: Process that can retain its complexity and replicate
- Life 1.0: Life that evolves its hardware and software (biological stage)
- Life 2.0: Life that evolves its hardware but designs much of its software (cultural stage)
- Life 3.0: Life that designs its hardware and software (technological stage)
Zugrunde liegt dieser Konstruktion eine Definition für “Leben”, die bei isolierter Betrachtung arg reduziert wirken mag. Sie überträgt die Eigenschaften eines Computers (Hardware und Software) - eines unbelebten Gegenstands - auf Leben im Allgemeinen. Gerade deshalb passt die Verwendung der Versionierungsanalogie hier ausgesprochen gut. Wenn verschiedene Lebensevolutionsphasen mit Hardware und Software beschrieben werden, scheint es nur konsequent, sie mit Versionsnummern zu betiteln.
Der Begriff Industrie 4.0 basiert schließlich auf einem vierstufigen Modell, das in den 2013 veröffentlichten Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0 auf S.17 folgendermaßen zusammengefasst ist2:
- Industrielle Revolution durch Einführung mechanischer Produktionsanlagen mithilfe von Wasser- und Dampfkraft (Ende 18. Jhdt.)
- Industrielle Revolution durch Einführung arbeitsteiliger Massenproduktion mithilfe von elektrischer Energie (Beginn 20. Jhdt.)
- Industrielle Revolution durch Einsatz von Elektronik und IT zur weiteren Automatisierung der Produktion (Beginn 70er Jahre des 20. Jhdt.)
- Industrielle Revolution auf Basis von Cyber Physical Systems (heute)
Die 4.0 verweist bei dieser Definition darauf, dass mit dem Einsatz Cyberphysischer Systeme eine weitgehende Computerisierung von Industrieprozessen stattfindet. Die Versionszahl wirkt hier - im Gegensatz zu den Phasen 1 bis 3 - nicht fehl am Platz. Das eigentlich Geschickte an dieser Konstruktion ist aber, dass drei vergangene Umbrüche in eine Reihe gestellt werden mit einem zukünftigen Umbruch, der noch gar nicht stattgefunden hat. Durch diese Reihung wird der vierten Phase eine gewisse Legitimität zugeschrieben, die den Kern des Zukunftsprojekts als Tatsache darstellt.
These 3: Etablierte Buzzword-Versionsnummern sind einfach übertragbar
Sobald sie einmal etabliert sind, greifen Versionsbuzzwords geradezu virulent um sich. Dieses Phänomen konnten wir bereits in der Hochphase des Web 2.0 beobachten. Plötzlich war die Rede vom Enterprise 2.0, von Health 2.0 und von der Bibliothek 2.0. Analog dazu hat sich rund um den Begriff Industrie 4.0 eine “4.0-Familie” herausgebildet. Dazu gehören Arbeit 4.0, Einkauf 4.0, Logistik 4.0, Medizin 4.0 und Führung 4.0 - um nur einige zu nennen.
Bei diesen Versionsübertragungen sind die neu geschaffenen Begriffe um die etablierten Begriffe Web 2.0 und Industrie 4.0 und deren Entwicklungsgeschichten herum angelagert. Die Versionszahlen übertragen den Kontext und eine Reihe von Assoziationen, die von den ursprünglichen Begriffen ausgehen.
In manchen Fällen spielen die 2.0- und 4.0-Familienmitglieder nur lose auf bestimmte Prinzipien der ursprünglichen Begriffe an. Zum Beispiel loten Konzepte, die unter dem Schlagwort Bibliothek 2.03 diskutiert werden, neue Formen der Einbindung von Bibliotheksbenutzern aus. Sie beziehen sich damit auf die partizipative Komponente des Web 2.0.
In anderen Fällen wird auch für die neu geschaffenen Begriffe eine Entwicklungsgeschichte konstruiert, die an derjenigen der etablierten Versionszahl andockt. Ein Beispiel hierfür ist Arbeit 4.0. So stellte beispielsweise das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in dem 2015 initiierten Dialogprozess Arbeiten 4.0 vor der Skizze von vier historischen Phasen der Arbeit4 zunächst die Verbindung zur Industrie 4.0 her:
Der Titel “Arbeiten 4.0” knüpft damit an die aktuelle Diskussion über die vierte industrielle Revolution (Industrie 4.0) an, rückt aber die Arbeitsformen und Arbeitsverhältnisse ins Zentrum – nicht nur im industriellen Sektor, sondern in der gesamten Arbeitswelt.
Fazit
Begriffe wie Web 2.0 und Industrie 4.0 schaffen vereinfachte Bezeichnungen für weitreichende Veränderungen, die in ihrem vollen Ausmaß in vielen Fällen noch gar nicht begreifbar sind. In diesem Sinne haben solche Buzzwords durchaus eine gewisse Daseinsberechtigung, auch wenn sie in vielerlei Hinsicht unscharf sind.
Neben den oben skizzierten Thesen gibt es sicher weitere Gründe für die Beliebtheit von Versionierungsanalogien. Ein ganz banaler Grund: Sie sind ideal geeignet für knackige Titel und Headlines - seien sie für Bücher, Zukunftsprojekte oder auch einen Beitrag wie diesen hier.