Selbst wenn wir über die neuesten Innovationen reden, greifen wir auf jahrtausende alte rhetorische Muster und Bilder zurück. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist die Metapher der Welle, die auf der Faszination des Menschen für die Naturgewalt des Meeres beruht.

Wellen treten in den unter­schied­lichsten Formen auf - von kleinen rhythmisierten Bewegungen bis hin zum reißenden Tsunami. Ebenso vielfältig sind die Arten und Weisen, wie das Bild genutzt wird. Platon nutzt es zum Beispiel im fünften Buch des Staates, um eine Form der Bewältigung darzustellen:

Das wäre also gleichsam eine Welle, über die wir uns rühmen können glücklich hinweggekommen zu sein […]

Wellen als Phasen

Sehr häufig wird die Wellen-Metapher eingesetzt, um verschiedene Phasen darzustellen. Die Phasen können dabei ganz unterschiedlich große Zeiträume umfassen. Ein prominentes Beispiel für die Darstellung sehr großer Zeiträume findet sich in dem 1980 erschienenen Buch The Third Wave des Futorologen Alvin Toffler:

Until now the human race has undergone two great waves of change, each one largely obliterating earlier cultures or civilizations and replacing them with ways of life inconceivable to those who came before. The first wave of change - the agricultural revolution - took thousands of years to play itself out. The Second Wave - the rise of industrial civilization - took a mere three hundred years. Today history is even more accelerative, and it is likely that the Third Wave will sweep across history and complete itself in a few decades.

Mit dem Bild der Welle beschreibt Toffler drei technologisch bedingte Umbrüche im Verlauf der Menschheits­geschichte und die daraus resultierenden Gesellschaftsformen. Sie münden letztendlich in der “dritten Welle”, einem vielschichtigen Szenario für eine postindustrielle, informations­technologisch geprägte Gesellschaft.

Das Bild der Welle nutzt Toffler hier, um etwas Altes dauerhaft durch etwas Neues zu ersetzen. Mit jeder Welle bricht ein neues Zeitalter an. Die immer kürzer werdenden Zeitabstände zwischen den Wellen geben der beschriebenen dritten Welle außerdem eine größere Relevanz. Denn durch die zeitliche Zuspitzung auf ein paar Jahrzehnte sind die beschriebenen Umwälzungen in einen erlebbaren Zeitraum gesetzt.

Unheilvolle Bedrohung

In den heutigen Digitalisierungs­diskursen ist häufig schlicht die Rede von der Welle der Digitalisierung. So liest man immer wieder Sätze wie:

Uns steht eine große Welle der Digitalisierung im Bereich XYZ bevor.

Zwar steht auch hier ein ähnlicher Aspekt der Metapher im Vordergrund wie bei Toffler, nämlich die Kraft der Veränderung und eine Verdrängung des Bestehenden. Der zeitliche Horizont ist jedoch völlig unbestimmt. Es geht nicht um langfristige gesamt­gesellschaftliche Veränderungen, sondern um akut anstehende Umwälzungen. Das Bild wird damit häufig herangezogen, um eine Bedrohungslage herauf­zu­beschwören und dringenden Handlungs­bedarf zu suggerieren. Die Botschaft ist klar: Entweder man passt sich an und reitet auf der Welle mit oder man wird von ihr überrollt.

Hier hilft die Metapher des Natur­phänomens der Welle dabei, bestimmte Situationen als naturgegeben und unausweichlich darzustellen. In Ausnahmefällen mag so eine Formulierung aus dramaturgischen Zwecken in Ordnung sein. In den meisten Fällen ist allerdings eine gesunde Skepsis angebracht. Vor allem dann, wenn die nahegelegte Unaus­weichlich­keit des Bildes eine Passivität des “Über-sich-ergehen-lassens” impliziert, die Handlungs­spielräume verdeckt.

Neue Hoffnung

In Deutschland und Europa kursiert seit einigen Jahren ein weiteres Wellen-Narrativ. Es prophezeit verheißungsvoll eine zweite Welle der Digitalisierung. Als erste Welle wird in der Regel die E-Commerce-lastige Form des Internets verstanden, die maßgeblich von US-amerikanischen Konzernen dominiert wird. Die Rede ist auch von der GAFA-Ökonomie, benannt nach den Branchen­riesen Google, Amazon, Facebook und Apple. Mit der zweiten Welle sind je nach Kontext ganz unterschiedliche Aspekte gemeint. Manchmal ist es die Künstliche Intelligenz, die eine zweite Welle der Digitalisierung einläuten soll. Manchmal ist es die Industrie 4.0 oder das Internet der Dinge bzw. das “Industrial Internet”.

So veröffentlichten beispielsweise Wirtschaftsminister Peter Altmaier und der Beirat “Junge Digitale Wirtschaft” im Oktober vergangenen Jahres einen Gastbeitrag im Handelsblatt mit dem Titel Die zweite Welle der Digitalisierung ist Europas Chance. Darin heißt es:

Die zweite Welle der Digitalisierung steht noch bevor. Gerade hier gibt es große Chancen für Deutschland und seine Unternehmen. Gerade hier haben wir ein enormes Potenzial für Dateninnovationen, vor allem im Bereich der Maschinendaten bzw. der Daten des „Internet of Things“.

Hier steht nun ein anderer Aspekt der Wellen-Metapher im Vordergrund. Aus einer Bedrohung wird eine Chance. Die erste Welle ist bereits Schnee von gestern. Hier ist der Zug abgefahren. Aber was soll’s? Die nächste Welle steht ja noch bevor. Und das ist für uns ja die eigentlich Wichtige.

Dieses hoffnungsvollere Narrativ dominiert aktuell den politischen Digitalisierungsdiskurs. Daneben kursieren eine Reihe weiterer Spielarten, die weitere historische Entwicklungsstufen der IT als Phasen verstehen. Sie sprechen auch schon von der dritten oder der vierten Welle der Digitalisierung.

Und wer sich nicht so sicher ist, wie viele Wellen es schon gab oder wer seine Kreativität für die Konstruktion einer schlüssigen Wellen-Historie nicht allzusehr beanspruchen will, schreibt einfach von der neuen oder nächsten Welle der Digitalisierung.

Die obigen Beispiele zeigen, wie unterschiedlich die Konnotationen der Wellen-Metapher im Digitalisierungs­kontext sind und welche Intentionen dahinter stecken können. Weitere Digitalisierungs­wellen werden mit Sicherheit kommen. Keine Sorge. Die Quelle der Wassermetaphorik ist noch lange nicht versiegt.